Dein Selbst, deine Träume, dein Schatten

Aufgrund der Träume und den Veränderungen, die in den eigenen Träumen dargestellt werden, entsteht äußeres Wachstum. Jung ist davon ausgegangen, dass das Wachstum durch ein seelisches Zentrum – dem Selbst – organisiert wird, was den sogenannten Kern der Seele darstellt. Das Selbst ist das, was wir sein sollen, oder besser gesagt, was die Seele anstrebt. Die Seele des Menschen ist nichts anderes als ein innerer Gefährte, der auch als innerer Freund bezeichnet werden kann. Jung erklärt das mithilfe der Naskapi-Jäger, die tief auf ihre Träume eingehen und dadurch eine enge Verbindung zu dem großen Mann, die Seele, in ihnen entstehen lassen (siehe Jung, 1999). Die Jäger nutzen also unbewusst den Seelenkern, den Jung als Selbst bezeichnet.

Das Selbst ist das, was bei der Geburt des Kindes rein und unbefleckt vorhanden ist. Es enthält alle Informationen zur Entwicklung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die einem Menschen von Geburt an mitgegeben wurden. Vielleicht enthält es aber auch schon einen ungefähren Weg, den die Seele bereit ist, zu gehen. Durch viele Einflussfaktoren die uns im Laufe der eigenen Entwicklung hin zum Erwachsenen begegnen, verändert sich das Selbst. Vielleicht werden eigene Eigenschaften und Fähigkeiten von anderen als störend oder nicht richtig interpretiert, so das die Folge oft eine gut gemeinte Veränderung des Selbst durch Erziehung ist. Verläuft der Weg nicht nach unseren eigenen Wünschen und Bedürfnissen, sondern folgt dem, was andere Personen und unser Umfeld von uns erwarten, wehrt sich die Seele, durch eigene Gefühle, durch die Träume, dann durch psychosomatische Beschwerden. Gerade dann, wenn wir zu weit von dem abkommen, wofür unser Selbst bestimmt ist, feuert unsere Seele Warnschüsse in Form von Träumen ab. Erst leise und dann immer lauter, bis sie nicht mehr zu überhören sind.

Ein Traum, der dies verdeutlicht:

Mein Lebensgefährte, unsere Kinder und ich kommen gerade vom Frühstück. Wir sind im Urlaub in Bensersiel. Wir verlassen gerade den Frühstücksraum, als ich einen Arbeitskollegen am Ende einer Menschenschlange sehe. Alle warten auf das Frühstück. „Oh, da kenne ich jemanden, ich muss mal Hallo sagen“, ich gehe auf die Menschenschlange zu. Als ich näherkomme, bemerke ich, dass der Mann meinem Arbeitskollegen nur sehr ähnlich sieht, er es aber nicht ist. Normalerweise lacht Steffen auch sehr viel und ist immer freundlich. Das ist hier nicht der Fall. Als ich bei ihm ankomme, sage ich: „Hallo, wir kennen uns doch.“ In diesem Moment spüre ich, dass ein ganz böses Gefühl von ihm ausgeht. Der Mann sagt nichts, schaut mich ernst an und wirkt gefährlich. Ich bekomme Angst und mir wird unbehaglich zumute. Dann gehe ich.

  • Mann = Animus; Mut zur Selbstbehauptung; Integration von Geist, Verstand, Tatkraft und Willen oft gepaart mit Härte und Aggressivität
  • böses Gefühl = der Schatten bricht durch

Im Alltag unterdrücken wir oft jegliche Art von unangenehmen oder auch aggressiven Gefühlen. Versteckt hinter einer Fassade von Freundlichkeit will der Schatten gesehen und integriert werden. Das macht erst einmal Angst. Es ist etwas Neues, etwas, das wir im Allgemeinen nicht bewusst wahrnehmen und jahrelang unterdrücken. Oft stellen wir unsere eigenen Interessen zurück. Wir wollen eigentlich Individualität leben und unseren eigenen Weg gehen. Eine Richtung, die der Traum ganz klar vorgibt.

Die körperlichen Symptome zeigen schon oft über Jahre den eigenen Weg. Sie markieren Veränderungspotenziale. Ärzte finden keine erklärbare Ursache. Das Leben zeigt im Traum, dass es Zeit ist, Anteile des Schattens zu integrieren, um größere Krankheiten zu vermeiden. Kleine Fehlleistungen wie Versprecher, harmlose Körpersymptome und vor allem Vermeidungsstrategien zeigen die nicht integrierten Anteile auf. Gleichzeitig lassen Funktionieren und Unwissenheit in Bezug auf den Schatten es nicht zu, dass Leben auf den eigenen Lebensweg zu lenken.

Der persönliche Schatten entsteht durch Verdrängung von Eigenschaften, mit denen wir uns nicht identifizieren möchten. Durch die tägliche Verdrängung wird der individuelle Schatten aufgebaut. Er wächst und wirkt täglich. Der Schatten macht Angst und kann zu unterschiedlichen Krankheitssymptomen führen. Der Traum gibt erste Anzeichen. Wir wollen oft  die Sonnenseite leben, ohne aber vorher durch den Schatten zu gehen.

Auszug aus Lichtgespenster